Mit dem zweiten Künstlerbuch „Erinnerung(s)Spielraum“ bin ich, bezogen auf die erste Arbeit zu dem Thema, noch einen Schritt weiter gegangen.  Ich wollte den Aspekt der Beliebigkeit von Erinnerungen bzw. deren Ungenauigkeit und Unzuverlässigkeit noch deutlicher machen. Ich glaubte – und glaube das noch immer – daß photographische Erinnerungen nur Interpretationen vergangener Wirklichkeitskonstruktionen sind, die fast nichts mehr mit uns selbst zu tun haben. Wenn ich eine Photographie aus einem der wenigen Alben betrachte, die meine Kindheit dokumentieren, habe ich fast keine Erinnerung, oder ich beginne zu spekulieren. Die wirklichen Erinnerungen aus meiner Kindheit sind fast immer nur an Bilder geknüpft, die ich in meinem Kopf habe. Auch wird niemand, der vielleicht nach meiner Zeit diese alten Photo-Alben meiner Kindheit betrachtet, viel von mir erfahren. Mir geht es in und mit meinen Arbeiten aber immer auch darum, eine Spur zu hinterlassen, eine Fährte zu meiner Existenz zu legen, etwas von mir zu erzählen und preiszugeben. Dabei ist mir bewußt, daß es sich im Fall der Betrachtung solcher Erinnerungsspuren zwangsläufig um noch ein größeres Maß an Interpretation und Vermutung handeln muß. Ich glaube aber, daß die Inszenierungen in meinen Photographien mehr über mich aussagen, als Photographien, die mich selbst im Alltag abbilden. Ich verspürte also eine immense Lust, ein Photo-Album  zu schaffen, das eigentlich keine konkrete Geschichte eines Menschen oder einer Familie erzählt und dokumentiert, sonders rein fiktiv ist. Und da diese Geschichte nicht stattgefunden hat und wahrscheinlich so nicht stattfinden wird, nenne ich die Arbeit an dem Album ein Voraus-Erinnern; ein Paradoxon – sprachlich wie auch grundsätzlich – das der trügerischen Seite der Erinnerung, aus meiner Sicht, sehr nahe kommt. Ich kaufte also ein altes, aber leeres, Photo-Album und suchte in Antiquariaten und auf Trödelmärkten ganz gezielt nach alten Photographien, die zu der Geschichte, die ich im Kopf hatte, und zu den Texten, die ich eigens dafür geschrieben hatte, paßten. Dann begann ich, das Album zu konstruieren. Es sollte das Jahr 2018 von Januar bis Dezember umfassen. Ich kombinierte also Photos, die ich für schon fertige Texte ausgesucht und gekauft hatte, mit diesen Texten und schrieb für Photos, die ich nur der Geschichte wegen gekauft hatte, neue Texte, und setze diese in Bezug zu den Photographien. Einige Photographien beschnitt oder manipulierte ich. Das Ergebnis ist für mich eine mögliche Erinnerungsspur, eine Sammlung von noch nicht stattgefundenen Ereignissen in einer vagen Zukunft, die sich allerdings auch mit Erinnertem – meinem eigenen und dem anderer – vermischt. Auf einer zweiten Ebene sehe ich auch eine Verflechtung von Vergessen – oder Vergessen-Wollen – und Voraus-Erinnern-Müssen.

Vinzenz Fengler, 2013